27
Am sechsundzwanzigsten Jahrestag der Wiedererweckung bewegte die Nicht vermietbar zum ersten Mal ihre Schaufelräder. Der Zeitpunkt lag etwa eine Stunde nach dem Aufflammen der für das Frühstück sorgenden Gralsteine. Die Kabel und Anschlüsse, welche die Nicht vermietbar mit dem nächsten Gralstein verbanden, wurden mit Hilfe einer Winde auf der Steuerbordseite durch eine Luke gezogen, während das gepanzerte und dampfbetriebene Amphibienfahrzeug mit dem Namen Plakate ankleben verboten aus nördlicher Richtung heranrauschte, um die an einem weiter entfernten Gralstein gefüllten Metallzylinder heranzuschaffen. Das einzigartige Flußboot des Samuel Clemens, bemalt mit weißer Farbe und mit roten, schwarzen und grünen Streifen verziert, bewegte sich langsam aus dem künstlichen Kanal heraus auf den Fluß zu.
Pfeifen wurden geblasen, eiserne Glocken läuteten. Die Passagiere lehnten sich winkend über die Reling, während die am Ufer zurückgebliebenen Bewohner von Parolando begeisterte Schreie von sich gaben. Die mächtigen Schaufelräder griffen munter ins Wasser.
Das Flußboot hatte eine Länge von vierhundertvierzig Fuß und sechs Zoll und eine Breite (von Schaufelrad zu Schaufelrad gemessen) von dreiundneunzig. Der Tiefgang betrug in beladenem Zustand zwölf Fuß, und die gigantischen die Schaufelräder antreibenden Elektromotoren konnten zehntausend PS erzeugen und gleichzeitig noch jede andere Anlage an Bord betreiben, die der Besatzung zur Verfügung stand. Und das waren nicht wenige. Die theoretische Höchstgeschwindigkeit der Nicht vermietbar in stillem Wasser betrug fünfundvierzig Meilen in der Stunde, was sich bei einer Fahrt flußaufwärts gegen die Strömung auf etwa dreißig reduzierte. Flußabwärts hingegen konnte sie sechzig schaffen. Aber dazu hatte man sie nicht gebaut.
Das Schiff hatte vier Decks: das sogenannte Kesseldeck, das Hauptdeck, das Hurrikandeck und das Landedeck. Die Brücke befand sich am vorderen Ende des Hurrikandecks, die Kabinen von Kapitän und Chefingenieur lagen direkt dahinter. Die Brücke selbst hatte ebenfalls zwei Decks. Sie lag unmittelbar vor den beiden großen Schornsteinen, die sich dreißig Fuß in die Lüfte erhoben. Firebrass hatte zwar etwas gegen die Schornsteine gehabt, weil er befürchtete, sie könnten die Sicht des Steuermanns behindern und außerdem spräche gar nichts dagegen, wenn man den Kesseldampf seitwärts abließe, aber Sam hatte nur geschnauft und geantwortet: »Was, zum Henker, interessiert mich die Zweckmäßigkeit? Alles was ich will ist Schönheit, und die werden wir auch kriegen! Wer hat schon je von einem Flußboot gehört, daß keine großen und beeindruckenden Schornsteine besaß? Hast du denn gar kein Herz, Bruder?«
Die Nicht vermietbar verfügte über fünfundsechzig großzügig angelegte Kabinen mit Klappbetten, Tischen, Stühlen und je einem Waschbecken mit heißem und kaltem Wasser und eine ganze Reihe von Duschanlagen, die sich die Bewohner von jeweils sechs Kabinen teilen mußten.
Auf den verschiedenen Decks gab es drei große Aufenthaltsräume mit Billardtischen, Pfeilwurfanlagen, Gymnastikausrüstungen und Bühnen, auf denen man Schauspiele oder Musicals aufführen konnte. In der Lounge des Hauptdecks schließlich befand sich ein großes Podium für das Orchester.
Das Oberdeck der Brücke war mit geschnitzten, luxuriös wirkenden und mit weißem und rotem Flussdrachenleder überzogenen Möbeln ausgestattet. Der Steuermann saß in einem bequemen Schwenksitz vor einer Instrumentenkonsole, die unter anderem auch eine Reihe kleiner TV-Schirme enthielt, die es ihm erlaubten, in jeden wichtigen Bereich des Schiffes einzusehen. Direkt vor ihm stand ein Mikrofon, über das er mit jedem Menschen an Bord Sprechkontakt aufnehmen konnte. Momentan steuerte er die Nicht vermietbar lediglich mit zwei winzigen Hebern, von denen der linke das Backbord- und der rechte das Steuerbordschaufelrad kontrollierte. Einer der Bildschirme gehörte zu dem Radargerät, mit dem man sich während der Nacht orientieren konnte, während ein anderer mittels eines Sonars die jeweilige Wassertiefe anzeigte. Es war sogar möglich, die Steuerung einem Autopiloten zu übertragen, aber die Anwesenheit des Rudergängers war auch in einem solchen Fall unbedingt erforderlich.
Sam hatte gebleichte Fischledersandalen an den Füßen, trug einen weißen Kilt, ein weißes Cape und eine weiße Offiziersmütze aus Plastik und Leder. Um seine Hüften schlang sich ein Gürtel mit einem Holster, in dem eine klobige, vierschüssige Mark II.69 baumelte. In einer Scheide steckte ein langes Messer.
Er ging auf und ab, hielt eine lange grüne Zigarre zwischen den Zähnen und beobachtete, beide Arme nur dann hebend, wenn er die Zigarre aus dem Mund nehmen mußte, den Rudergänger Robert Styles, der jetzt zum ersten Mal hinter den Kontrollen des Schiffes saß. Styles war ein alter Mississippi-Schipper, ein gutaussehender Mann und eine ehrliche Haut, auch wenn er manchmal zu Übertreibungen neigte. Er war zwei Jahre zuvor aufgetaucht, und sein Erscheinen hatte dazu geführt, daß Sam nach langer Zeit wieder einmal die Tränen gekommen waren: Und das lag daran, daß er den Mann gekannt hatte, als sie noch beide auf dem Mississippi gefahren waren.
Styles war nervös, und das war nicht ungewöhnlich bei einer Jungfernfahrt wie dieser. Selbst dem legendären Flußschiffer Kapitän Jesajah Seilers hätten in diesem Augenblick sicher die Hände gezittert. Und dabei war es gar nicht schwierig, das Schiff zu steuern: Selbst ein einäugiger Sonntagsschullehrer mit Tatterich hätte es schaffen können, oder sein sechsjähriger Sohn, wenn er wußte, wozu die beiden Hebel dienten. Wenn man sie nach vorne schob, erhöhte sich die Geschwindigkeit, in Mittelstellung hielten die Schaufelräder an, drückte man sie nach hinten, drehten sie sich rückwärts. Um das Schiff nach Backbord hinüberzubekommen, bewegte man den linken Hebel nach links, wollte man nach steuerbord, ging es genau umgekehrt.
Aber es erforderte einige Übung. Glücklicherweise benötigten sie keine Karten, um sich auf dem Fluß zurechtzufinden: Es gab weder Inseln noch Sandbänke, und Treibholz konnte ihnen kaum gefährlich werden. Wenn das Schiff in zu niedrige Gewässer eindrang, würde das Sonar automatisch die Alarmglocken in Betrieb setzen. Wenn ein Boot während der Nacht vor ihnen auftauchte oder sich ein überdimensionaler Baum auf sie zubewegte, würde das Radarsystem alles weitere regeln, indem es eine rote Lampe aufleuchten ließ.
Sam blieb eine halbe Stunde in Styles’ Nähe. Draußen zog die Uferlandschaft vorbei. Tausende von Menschen hatten sich am Fluß versammelt und winkten ihnen zu. Einige, das war klar, würden auch fluchen, da ihnen das Glück nicht hold gewesen war und sie jetzt zurückbleiben mußten. Aber zum Glück waren die Flüche unhörbar.
Schließlich übernahm Sam das Steuer. Eine halbe Stunde später fragte er John, ob auch er es einmal versuchen wolle. Der Ex-König war ganz in Schwarz gekleidet, als hätte er sich vorgenommen, stets das Gegenteil von dem zu tun, was Sam tat. Aber für einen Menschen, der im Leben nie den geringsten Handschlag an körperlicher Arbeit getan und statt dessen für alles und jedes seine Domestiken eingesetzt hatte, hielt er sich ganz ordentlich.
Die Nicht vermietbar tuckerte an Iyeyasus ehemaligem Imperium (das jetzt wieder in die drei ursprünglichen Staaten zerfallen war) vorbei, und dann gab Sam den Befehl zur Umkehr. Styles übernahm diensteifrig wieder die Position des Rudergängers, offenbar wollte er seine Fähigkeiten jetzt voll ausspielen. Während er das Backbordrad blockierte, ließ er das andere mit Höchstgeschwindigkeit laufen. Die Nicht vermietbar drehte, fuhr flußabwärts und erreichte bald eine Geschwindigkeit von sechzig Meilen pro Stunde. Sam wies Styles an, sich mehr in Ufernähe zu halten, um die Funktion des Sonars zu testen. Selbst durch das Dröhnen der Motoren, der Pfeifsignale und läutenden Glocken hindurch konnte er das begeisterte Geschrei der Menge noch hören. Die Gesichter der Schaulustigen jagten an ihm vorbei wie ein Traum. Sam öffnete die Tür der Brücke. Er wollte den Wind spüren, um das richtige Gefühl für die Geschwindigkeit zu entwickeln.
Die Nicht vermietbar raste mit Höchstgeschwindigkeit flußabwärts nach Selinujo, dann wendete sie erneut und Sam wünschte sich plötzlich, es würde noch ein anderes Schiff dieser Art existieren, um dagegen ein Wettrennen auszutragen. Es war himmlisch, über das einzige elektrisch angetriebene und aus Metall bestehende Schiff dieser Welt zu verfügen, und dieses Gefühl war nicht zu steigern. Ein Mensch konnte im Leben nicht alles haben; nicht einmal in dem nach dem Tode.
Während sie flußaufwärts fuhren, öffnete sich die Heckklappe, und die Barkasse wurde zu Wasser gelassen, die bald Höchstgeschwindigkeit erreichte, das Mutterschiff überholte und ihm vorausfuhr. Die dampfbetriebenen Maschinengewehre jagten eine Salve ins Wasser, und die Kanonen der Nicht vermietbar antworteten. Alles schien bestens zu funktionieren.
Dann erschien das dreisitzige Wasserflugzeug in der Hecköffnung, breitete seine Schwingen aus, ließ sie einrasten und startete. Am Steuer der Maschine saß Firebrass, bei ihm befanden sich als Passagiere Gwenafra und seine Frau.
Kurz danach wurde der winzige, einsitzige Jäger von einem Katapult aus abgeschossen und schwang sich in die Lüfte. Der Mann, der ihn steuerte, war Lothar von Richthofen. Er spielte die Stärke der Motoren sofort voll aus und entfernte sich so schnell vom Mutterschiff, daß man ihn bald aus den Augen verlor. Schließlich kehrte er zurück, ließ den Jäger steigen und unterhielt die Bewohner der Flußwelt mit den ersten luftakrobatischen Kunststückchen, die dieser Planet je gesehen hatte – zumindest nach Sams Wissen.
Er beendete seine Vorstellung damit, daß er die Nase der Maschine nach unten richtete, vier Raketen in den Fluß jagte und das Zwillingsmaschinengewehr in Aktion vorführte. Letzteres war vom Kaliber .80 und verschoß Aluminiumkugeln. Man hatte an Bord der Nicht vermietbar einen Vorrat von einhunderttausend Schuß angelegt. Waren diese verbraucht, war es mit ihrer Feuerkraft am Ende, denn die Kugeln konnten nicht ersetzt werden.
Lothar ging mit dem Einsitzer auf dem Landedeck nieder.
Der Haken am Heck der Maschine packte ein Gummiseil, und das Flugzeug kam knapp vor den Schornsteinen zum Stehen. Kurz darauf stieg Lothar wieder auf und probierte einen neuen Landeflug. Später kehrte auch Firebrass zurück, der es sich nicht nehmen ließ, ebenfalls einen Testflug mit dem Einsitzer zu unternehmen.
Sam warf einen Blick auf das Vorderteil des Kesseldecks und beobachtete die Marinesoldaten, die Cyrano unter den sengenden Strahlen der Vormittagssonne drillte. Die Männer marschierten auf und ab. Ihre silbernen Helme ähnelten denen der alten römischen Kampftruppen, und zudem trugen sie rot und grau gestreifte Kettenhemden, die ihnen bis über die Hüften reichten. Ihre Beine steckten in Lederstiefeln. Sie waren mit Rapieren, langen Messern und Mark-II-Pistolen bewaffnet. Diese Abteilung war die einzige, die Pistolen trug. Der größte Teil der Besatzung, die Bogenschützen und das Raketenpersonal, verbrachte die Zeit damit, den Manövern der Barkasse und der Flugzeuge zuzusehen.
Als Sam das honigfarbene Haar Gwenafras in der Menge entdeckte, durchströmte ihn ein Glücksgefühl. Dann sah er Livys dunklen Schopf und fühlte sich frustriert.
Nach den letzten sechs zerstrittenen Monaten mit von Richthofen hatte Gwenafra endlich die Konsequenzen gezogen und sich mit Sam zusammengetan. Aber es gelang ihm immer noch nicht, seine Ex-Frau anzusehen, ohne dabei ein Gefühl der Verlorenheit zu empfinden.
Wären Livy und John nicht dagewesen, hätte er sich möglicherweise für den glücklichsten Menschen dieser Welt gehalten, aber Livy war da. Sie würde auch während der nächsten vierzig Jahre der Reise in seiner Nähe bleiben, und das war mehr, als ein Mann verkraften konnte. John erzeugte schon deswegen einen heftigen Schmerz in Sams Magengrube, weil er durch jeden seiner Alpträume geisterte.
Der Ex-König hatte ihm so bereitwillig die Position des Kapitäns überlassen und sich selbst mit der des Ersten Offiziers begnügt, daß es beinahe unheimlich war. Wann würde er die unausweichliche Meuterei in Szene setzen? Es war keine Frage, daß er irgendwann versuchen würde, Sam seines Kommandos zu entheben und alle Macht an sich zu reißen. Und jeder halbwegs intelligente Mensch würde das zu verhindern wissen, indem er ihn geradewegs über Bord werfen ließ.
Aber die Ermordung Blutaxts nagte immer noch an Sams Gewissen. Er war nicht einmal unter dem Aspekt, daß John ja nicht tot bleiben würde, zu einer Wiederholung einer derartigen Tat bereit. Ein Mord blieb ein Mord, ein Verrat ein Verrat.
Die Frage lautete also: Wann würde John zuschlagen? Am Anfang der Reise? Oder erst viel später, wenn er glaubte, Sams Mißtrauen eingelullt zu haben?
Die gegenwärtige Lage war jedenfalls unerträglich. Aber es war immerhin überraschend, wie viel Intoleranz ein Mensch tolerieren konnte.
Ein blonder, hünenhafter Mann betrat die Brücke. Sein Name war Augustus Strubewell, und er galt seit dem Tag, an dem Hacking Parolando überfallen und John sich zu Iyeyasu begeben hatte, als die rechte Hand des Ex-Königs. Strubewell stammte aus San Diego, Kalifornien, war 1971 geboren und Captain der US Marineinfanterie gewesen. Während der Unruhen und Aufstände im Mittleren Osten und Südamerika hatte er mehrere hohe Tapferkeitsauszeichnungen erhalten und später in Film und Fernsehen Karriere gemacht. Er schien kein allzu übler Bursche zu sein, wenngleich er wie sein Herr und Meister ständig mit seinen weiblichen Eroberungen prahlte. Sam mochte ihn nicht und traute ihm nicht über den Weg. Ein Mann, der für John Lackland arbeitete – seiner Ansicht nach konnte bei einem solchen Menschen schon von vornherein etwas nicht stimmen.
Sam zuckte die Achseln. Sollte er sich doch einen Moment an der herrlichen Aussicht erfreuen. Er sah keinen Grund, jemandem den Spaß zu vermiesen.
Sam beugte sich aus dem Fenster und beobachtete die Mannschaft und die an den Ufern stehenden Menschenmengen. Die Sonnenstrahlen brachen sich auf den Wellen, und die Brise kühlte ihn etwas ab. Wenn es ihm zu warm werden sollte, konnte er das Fenster schließen und die Klimaanlage einschalten. Sie war quadratisch und zeigte einen scharlachfarbenen Phönix auf hellblauem Untergrund. Er sollte die Wiedergeburt der Menschheit symbolisieren.
Sam winkte den am Ufer stehenden Leuten zu und betätigte dann einen Knopf, der die Dampfpfeifen und Glocken erklingen ließ.
Schließlich zündete er sich eine neue Zigarre an und ging wieder auf und ab. Strubewell reichte John ein Glas Bourbon und bot Sam ebenfalls eins an. Alle Anwesenden auf der Brücke – Styles, die sechs anderen Rudergänger, Joe Miller, von Richthofen, Firebrass, Publius Crassus, Mozart, John Lackland, Strubewell und drei weitere Unterführer Johns – hielten jetzt Gläser in den Händen.
»Ich möchte einen Toast aussprechen, Gentlemen«, sagte John auf esperanto. »Möge eine lange und glückliche Reise vor uns liegen und möge jeder von uns das bekommen, was ihm zusteht.«
Joe Miller stand in unmittelbarer Nähe Sams. Sein Kopf berührte fast die Decke, und in dem Glas, das er in der Hand hielt, war ein vierstöckiger Whisky. Plötzlich schnüffelte er mit seiner riesigen Nase an dem Getränk. Dann probierte er es mit der Zungenspitze.
Sam war gerade im Begriff, den Inhalt seines Glases hinunterzustürzen, als er sah, daß Joe das Gesicht zu einer affenähnlichen Grimasse verzog.
»Ist was, Joe?« fragte er.
»In diefen Feug ift etwaf drin!«
Sam roch ebenfalls, konnte aber abgesehen vom besten Aroma, das Kentucky zu bieten hat, nichts Außergewöhnliches feststellen.
Als John, Stubewell und die anderen zu den Waffen griffen, kippte er dem Ex-König die Flüssigkeit ins Gesicht, schrie: »Gift!«, und warf sich zu Boden.
Strubewells Mark II krachte. Die Plastikkugel knallte gegen die kugelsichere Wand über Sams Kopf.
Joe brüllte auf. Es klang wie das Gebrüll eines Löwen, der plötzlich aus seinem Käfig freigelassen wird. Dann schüttete er den Inhalt seines Glases in Strubewells Augen.
Johns Vasallen feuerten einmal und dann noch einmal. Die Mark-II-Pistolen waren vierschüssige Revolver, in deren Patronen das Pulver von elektrischen Funken gezündet wurde. Sie waren noch länger und schwerer als die Fabrikate der Mark-I-Serie, konnten allerdings auch schneller abgefeuert werden. Zudem trieb kein Schwarzpulver die Kugeln an, sondern Kordit.
Im nächsten Moment verwandelte sich die Brücke in ein Chaos aus Schüssen, Pulverrauch, Schreien und zersplitterndem Plastik. Johns Leute schrieen, als Joe sich mit einem alles überlagernden Brüllen auf sie warf.
Sam rollte sich zur Seite, riß den Arm hoch und schaltete den Autopiloten ein. Rob Styles lag auf dem Boden. Ein Schuß hatte ihm den halben Arm weggerissen. Direkt neben ihm lag einer von Johns Vasallen im Sterben. Strubewell warf sich auf Sam, schoß über das Ziel hinaus, krachte mit dem Schädel gegen die Wand, verlor das Bewußtsein und landete dann doch noch auf Sams Rücken. John war verschwunden; hatte sich über die Leiter hinweg aus dem Staube gemacht.
Sam krabbelte unter Strubewells Körper hervor. Vier der Rudergänger lebten nicht mehr. Johns Unterführer waren – von Strubewell, der nur die Besinnung verloren hatte, abgesehen – ebenfalls tot. Joe hatte ihnen das Genick gebrochen und ihre Kiefer zerschmettert. Mozart hockte zitternd in einer Ecke. Firebrass blutete aus mehreren Schnittwunden, die er durch herumfliegende Plastikteilchen erlitten hatte. Lothar hatte eine Schulterwunde. Einer von Johns Leuten hatte ihn mit einem Messer bearbeitet, ehe Joe ihn erwischen und seinen Kopf um hundertachtzig Grad nach hinten drehen konnte.
Mit schlotternden Knien stand Sam auf und wagte einen Blick nach draußen. Jene Besatzungsmitglieder, die den exerzierenden Marinesoldaten zugesehen hatten, waren verschwunden, nicht jedoch ohne ein rundes Dutzend Leichen auf Deck zurückzulassen. Die Männer auf dem Kesseldeck lieferten sich ein erbittertes Feuergefecht mit jenen, die von den Seiten des Hauptdecks auf sie schossen. Hin und wieder peitschten auch Schüsse aus den Kabinenfenstern zu ihnen hinunter.
Cyrano hielt sich bei seinen Leuten auf, schwang das Rapier und brüllte Befehle. Plötzlich stürmte einer von Johns Männern vor, schoß auf ihn, und Cyrano fiel hin. In der nächsten Sekunde war er wieder auf den Beinen, sein Degen wirbelte durch die Luft und war dann blutrot. Der andere Mann, der sich ihm genähert hatte, taumelte, wandte sich um und lief zurück. Cyrano eilte hinter ihm her. Sam schrie: »Zurück, du Narr! Geh in Deckung!« Aber Cyrano hörte ihn natürlich nicht.
Langsam kam Sam wieder zu sich. John hatte ihnen etwas in die Drinks getan, Gift oder ein Schlafmittel. Es war nur Joes unmenschlich feinfühliger Nase zu verdanken, daß sie jetzt nicht alle auf dem Boden lagen und John an der Macht war.
Sam spähte aus der Steuerbordluke. Die Stelle, an der die Nicht vermietbar während der Nacht vertäut werden sollte, lag nur eine halbe Meile weit entfernt. Morgen sollte die Reise offiziell beginnen. Hätte beginnen sollen, dachte Sam.
Er schaltete den Autopiloten aus und übernahm selbst die Steuerung.
»Joe«, sagte er, »ich bringe das Schiff jetzt ans Ufer. Es kann passieren, daß ich es auf Grund setze. Hol mir die Flüstertüte. Ich werde den Leuten an Land erzählen, was hier vor sich gegangen ist, und dann ist Johns Spiel aus.«
Er zog den Steuerbordhebel zurück und schob den Backbordhebel nach vorn.
»Was ist denn das?« fuhr er plötzlich auf.
Das Schiff verfolgte immer noch den gleichen Kurs und fuhr flußaufwärts. Dabei hielt es konsequent eine Distanz von einhundert Fuß zum Ufer ein.
Erschrocken probierte Sam einen Hebel nach dem anderen. Vergeblich. Nichts geschah.
Johns Stimme drang aus der Bordsprechanlage und sagte: »Es hat keinen Sinn, Samuel-Boß-Kapitän-Hundesohn! Das Schiff untersteht jetzt meiner Kontrolle! Der Ingenieur, der bald mein Chefingenieur sein wird, war so klug, eine zweite Instrumentenkonsole in das Schiff einzubauen, die so gut versteckt ist, daß niemand sie finden kann. Alle Kabel, die zu dir hinaufführen, mein Lieber, sind durchgeschnitten. Damit ist für dich die Sache jetzt gelaufen, Samuel. Meine Männer werden gleich die Brücke stürmen und dich festnehmen. Ich würde es allerdings begrüßen, wenn dabei so wenig wie möglich zu Bruch ginge, und mache dir das großzügige Angebot, uns freiwillig zu verlassen. Wenn du das tun willst, wird dir nichts geschehen. Vorausgesetzt natürlich, du schaffst es, schwimmend das Ufer zu erreichen.«
Sam stieß einen Fluch nach dem anderen aus, wünschte John Vampire und Nachtmahre an den Hals und drosch schließlich wie ein Irrer auf die Instrumentenkonsole ein. Aber das Schiff fuhr unerbittlich weiter und ließ das Dock, an dem es hätte anhalten sollen, hinter sich, während die dort wartenden Leute winkten und schrieen und sich fragten, warum es nicht anhielt.
Lothar, der aus einem der Heckfenster blickte, sagte: »Sie schleichen sich an uns ran!«, und gab einen Schuß auf einen Mann ab, der eben im Begriff war, sich ihnen von hinten zu nähern.
»Lange können wir uns hier nicht halten«, sagte Firebrass. »Wir haben so gut wie keine Munition!«
Sam blickte durch die Frontscheiben. Mehrere Männer und Frauen kamen auf das Kesseldeck gelaufen und blieben stehen.
Unter ihnen befand sich auch Livy.
Wieder stürmte jemand vor. Ein Mann drang auf Cyrano ein, der gerade damit beschäftigt war, einen anderen Gegner zu erledigen. Livy versuchte dem Burschen mit einer Pistole das Schwert aus der Hand zu schlagen, aber es mißlang. Der Angreifer stach sie nieder. Sie fiel hintenüber, während die Klinge noch immer aus ihrem Leib ragte. Der Mann, der sie umgebracht hatte, starb eine Sekunde später, denn dann war Cyrano über ihm und zog ihm sein Rapier durch die Kehle.
Sam schrie: »Livy!« Dann stürmte er von der Brücke und kletterte die Leiter hinab. Kugeln pfiffen an seinen Ohren vorbei und prallten gegen die Decksaufbauten. Er fühlte einen heißen Schmerz, dann schrie in seiner Nähe jemand auf. Trotzdem kletterte Sam weiter. Nur schemenhaft nahm er wahr, daß Joe und die anderen ihm gefolgt waren. Vielleicht hatten sie vor, ihn zu retten, aber genauso gut konnten sie erkannt haben, daß es jetzt allerhöchste Zeit war, die Brücke zu verlassen.
Überall lagen Tote und Verwundete herum. Johns Männer waren nicht sehr zahlreich gewesen. Er hatte auf den Überraschungseffekt gebaut, und der war ihm absolut gelungen. Dutzende von Sams Leuten waren in den ersten Sekunden der Meuterei ums Leben gekommen und weitere Dutzende während der ausgebrochenen Panik. Und noch viel mehr waren ins Wasser gesprungen, als sie erkannt hatten, daß sie weder die Möglichkeit hatten, sich zu verstecken, noch die, sich zu verteidigen. Der größte Teil der Besatzung war nicht einmal bewaffnet gewesen.
Die Nicht vermietbar hielt nun auf das Ufer zu. Die Schaufelräder drehten sich mit aller Kraft und wühlten sich durch die Fluten, und das Deck vibrierte unter Sams Füßen. John ließ das Schiff ans Ufer treiben, weil dort zahlreiche bewaffnete Männer und Frauen auf ihn warteten.
Es stand außer Frage, daß er die Unzufriedenen um sich geschart hatte; jene Leute, die der Ansicht waren, bei der Mannschaftslotterie zu kurz gekommen zu sein. Wenn sie erst einmal an Bord waren, würden sie mit Sam und seinen Leuten kurzen Prozeß machen.
Sam ließ die Brücke hinter sich und lief das Hurrikandeck entlang. Er hielt dabei eine Pistole in der einen und ein Messer in der anderen Hand. Er hatte keine Ahnung, wie er an die Waffen gekommen war, und konnte sich nicht einmal daran erinnern, sie aus dem Gürtel gezogen zu haben.
Am oberen Ende der zum nächsten Deck hinabführenden Leiter tauchte ein Gesicht auf. Sam schoß, und es verschwand. Mit einem Sprung näherte er sich dem Decksrand und schaute hinunter. Im gleichen Moment feuerte er, und diesmal ging der Schuß nicht daneben. Die Brust des auf der Leiter hockenden Mannes färbte sich rot, dann fiel er hinunter und riß zwei andere mit sich. Einige weitere Männer auf dem unteren Deck zogen nun ihrerseits Pistolen und feuerten auf Sam, so daß ihm nichts anderes übrigblieb, als zurückzuspringen. Die Salve verfehlte ihn jedoch, aber einige Geschosse rissen den Decksrand zu seinen Füßen auf und jagten Splitter in seine Beine.
Joe Miller war plötzlich hinter ihm und schrie: »Fäm! Fäm! Wir muffen da runter! Fie haben unf umfingelt!«
Unter ihnen kämpfte Cyrano de Bergerac – mit dem Rücken gegen die Reling – jetzt gegen drei Angreifer gleichzeitig. Er durchbohrte dem ersten die Kehle, wirbelte dann herum und sprang über Bord. Gleich darauf tauchte sein Kopf bereits wieder aus dem Wasser. Mit aller Kraft bemühte er sich, dem riesigen Schaufelrad zu entgehen, das in seiner unmittelbaren Nähe schäumend das Wasser aufwirbelte.
In die hinter Sam aufragenden Kabinenwände schlugen nun die ersten Kugeln ein. Lothar schrie: »Spring, Sam! Spring!«
Aber dazu war jetzt keine Gelegenheit. Sie konnten weder das unter ihnen liegende Deck, noch das auf dem sie sich gerade aufhielten, überqueren.
Joe wandte sich wieder um und rannte, die riesige Streitaxt schwingend, auf eine Gruppe aus dem Hinterhalt anrückender Pistolenschützen zu. Die Meuterer feuerten aus allen Rohren, aber es gelang ihnen nicht, den Titanthropen, der sich immer noch außerhalb ihrer Reichweite aufhielt, zu treffen. Schließlich zogen sie sich zurück. Joe hatte auch in dieser bedrohlichen Lage wieder einmal ganz auf die psychologische Wirkung seiner hünenhaften Erscheinung gebaut. Die Panikreaktion unter denjenigen, die sich für sein bevorzugtes Opfer hielten, hatte auch diesmal pünktlich eingesetzt.
Die anderen folgten ihm, bis sie auf der Höhe des großen Schaufelradgehäuses waren. Dieses befand sich etwa zehn Fuß unterhalb des Hurrikandecks und konnte mit einem guten Sprung von der Reling aus erreicht werden. Während die Kugeln ihnen um die Ohren pfiffen, sprangen sie nacheinander hinab und sammelten sich auf der Oberfläche des Metallgehäuses. Jetzt lag das Wasser immer noch dreißig Fuß unter ihnen, und das war eine Höhe, die Sam unter anderen Umständen mit Sicherheit hätte zögern lassen. Aber jetzt hatte er keine andere Wahl mehr. Er hielt sich die Nase zu und sprang geradewegs in die Tiefe, wo er mit den Füßen zuerst den Wasserspiegel durchbrach.
Als er wieder auftauchte, sah er Joe Miller das gleiche tun, aber nicht vom Gehäuse des Schaufelrades aus, sondern vom Hauptdeck. Er hatte sich schließlich doch noch die Leiter hinuntergekämpft, war über das Deck gestürmt und hatte die sich ihm in den Weg stellenden Zwerge kurzerhand beiseite gefegt. Er warf sich über die Reling, während die Meuterer hinter ihm her schossen und ihm einen Pfeilhagel nachjagten.
Als Sam erkannte, daß man die Maschinengewehre schwenkte, um ihm mit den 15er Kalibern den Garaus zu machen, tauchte er kurzerhand unter.
Ungefähr zwei Minuten später begann die Nicht vermietbar mit einem Wendemanöver; offenbar hatte John inzwischen erfahren, daß ihm sein Hauptfeind entwischt war. Aber zu diesem Zeitpunkt hielt sich Sam bereits an Land auf und rannte, was seine Beine hergaben. Das Feuer wurde eingestellt. Vielleicht war John inzwischen zu der Erkenntnis gelangt, daß es besser sei, Sam nicht umzubringen. Wenn er ihn leiden ließ, würde sein Schmerz um so größer sein; und am meisten würde er leiden, wenn man ihn dorthin jagte, wo alles seinen Anfang genommen hatte: nach Parolando.
Dann wehte Johns Stimme, verstärkt durch eine Flüstertüte, zu ihm herüber: »Leb wohl, Samuel, du Narr! Vielen Dank, daß du dieses Schiff für mich gebaut hast! Ich werde ihm einen Namen geben, der mich besser kleidet, und mache mich jetzt auf, um die Früchte deiner Arbeit zu ernten! Und vergiß mich nicht! Leb wohl!«
Das anschließende Gelächter trieb Sam fast in den Wahnsinn. Schließlich verließ er sein Versteck und kletterte auf die Uferbefestigung. Das Schiff hatte jetzt angehalten und man ließ eine Strickleiter herab, um die Verräter, die am Ufer gewartet hatten, an Bord zu nehmen. Unter ihm erklang plötzlich eine Stimme, und als Sam den Blick senkte, erkannte er Joe Miller, der mit klatschnassem Haar und aus mehreren Wunden blutend aus dem Wasser kam.
»Lothar, Firebraff, Fyrano und Johnfton haben ef ebenfallf gefafft, Fäm«, meldete er. »Wie geht ef dir?«
Sam ließ sich auf dem Wall aus festgestampfter Erde nieder und sagte: »Wenn mich das weiterbrächte, würde ich mich am liebsten selbst umbringen. Aber diese Welt ist eine Hölle, Joe, eine absolute Hölle. Sie erlaubt dir nicht mal einen sauberen Selbstmord. Wenn du dich umbringst, bist du am nächsten Tag einfach anderswo und hast mit den gleichen Problemen zu kämpfen… Ach, scheiß drauf!«
»Waf machen wir jetft, Fäm?« fragte Joe.
Es dauerte eine Weile, bis Sam Clemens sich dazu aufraffte, eine Antwort zu geben. Wenn er Livy nicht haben konnte, konnte Cyrano sie auch nicht haben. Solange er nicht wußte, wo sie sich aufhielt, konnte er sich einbilden, daß sie sich auf dieser Welt noch gar nicht getroffen hatten. Aber ebenso würde er sich darüber schämen, den Verlust, den Cyrano erlitten hatte, bejubelt zu haben.
Nicht jetzt daran denken. Er war zu kraftlos dazu. Der Verlust des Schiffes wog viel schwerer als Livys Tod.
Nach all diesen Jahren der Arbeit, des Kummers, der Intrigen, des Planens, der Leiden…
Es war einfach zuviel für einen einzelnen Mann.
Joe war zutiefst erschüttert, als er seinen Freund weinen sah, aber er blieb stumm neben Sam sitzen, bis dessen Tränen trockneten. Dann sagte er: »Bauen wir unf jetft ein neuef Boot, Fäm? Noch gröffer und noch föner.«
Sam Clemens stand auf. Die Strickleiter wurde jetzt wieder eingeholt. Pfeifensignale erklangen, dann wurden die Schiffsglocken geläutet. Möglicherweise lachte John sich gerade in dem Augenblick ins Fäustchen. Es war nicht einmal unwahrscheinlich, daß er ihn jetzt mit einem Fernrohr beobachtete.
In der Hoffnung, daß John ihn sehen würde, schüttelte Sam seine Faust.
»Ich kriege dich schon noch, du Verräter!« heulte er zum Fluß hinunter. »Ich werde ein neues Schiff bauen, und dann werde ich mir dich schnappen! Es ist mir egal, welche Hindernisse sich mir in den Weg legen, oder wer versuchen wird, mich aufzuhalten! Ich werde dich einholen, John, und dann blase ich dein gestohlenes Schiff in tausend Stücke! Niemand – absolut niemand –, weder der Fremde, der Teufel, Gott oder sonst wer, gleichgültig über welche Macht er auch verfügt, wird mich davon abhalten können!
Eines Tages, John! Irgendwann!«